Vision oder Illusion: Fasten
Wer will das nicht: Länger leben. Gesünder, fokussierter und energetischer leben. Wenige würden das ablehnen. Deshalb ist es ja auch so effektiv. Effektiv um uns irgendetwas zu verkaufen. In so vielen Bereichen sieht man das, selten so intensiv wie beim Thema Ernährung und natürlich auch Thematik des Fasten, was seit einigen Jahren eine Renaissance in der ewig anhaltenden Gesundheitsdiskussion erleben durfte.
Wer unsere Artikel der Vergangenheit gelesen hat, weiß, dass wir uns damit nicht begnügen. Erst wenn man hinter den Vorhang sieht, kann man erkennen, wie alles zusammenhängt und folglich die grundlegenden Konzepte verstehen, um sich eine eigene Meinung halbwegs — so rational wie möglich — bilden zu können.
Die Frage also nochmals auf den Punkt gebracht: Ist das Fasten eher eine Vision, mit der wir uns näher beschäftigen sollten, oder eher eine Illusion ohne Fundament?
Vielleicht hast du das erste Mal vom Thema Fasten gehört, als Jack Dorsey (Co-Founder und CEO von Twitter) und Wim Hof („The Iceman“) das erste Mal öffentlich meinten, dass sie nur einmal pro Tag äßen. Vor allem bei Dorsey gab es durch seine weltweite Bekanntheit eine große Diskussion. Krank schauen die zwei auf jeden Fall nicht aus. Ganz im Gegenteil: Sie beide leisten geistig und physisch sehr viel und behaupten, dass sie in ihrer höchsten gesundheitlichen Verfassung seien. Jedenfalls mangelt es uns an realen Personen, die den Weg für uns vorgegangen sind, jedenfalls nicht.Nur ist die Frage, welche Wege wirklich sinnvoll sind, welche echt und welche nur in gutes Licht gezogen wurden.
Schauen wir also vielleicht zunächst einmal in die Vergangenheit.
GESCHICHTE
Sporadisches Kurzfasten, das von religiösen und spirituellen Überzeugungen getrieben wird, ist in vielen Kulturen üblich und wird seit Jahrtausenden praktiziert. Auch in den „Blauen Zonen“ sieht man ähnliche Bräuche, in denen die meisten Menschen über 150 Tage im Jahr fasten. Zudem zeigt sich bei besonders langlebigen Menschen, dass diese die täglichen Mahlzeiten meist in einem 8-Stunden-Fenster einnehmen und daher die restlichen 16 Stunden des Tages keine Nahrung mehr zu sich nehmen.
Wissenschaftlich gesehen setzten Keith R. Porter und sein Student Thomas Ashford 1962 den ersten Schritt, die erstmals den Prozess der Autophagozytose - kurz Autophagie, beschrieben. Von da an begann die wissenschaftliche Untersuchung der Funktionsweise und Folgeeffekte von Autophagie-Genen (ATG), welche eine zentrale Rolle bei der Nahrungsreduktion bilden. Für seine Entdeckungen rund um Autophagie erhielt Yoshinori Osumi den Nobelpreis 2016 für Physiologie oder Medizin. Wichtig ist dabei zu erwähnen, dass viele weitere Arbeitsgruppen und Wissenschaftler:innen ebenso beteiligt an den heutigen Erkenntnissen der Autophagie sind, weshalb auch öfters kritisiert wird, warum ausschließlich Osumi den Nobelpreis erhielt.
AUTOPHAGOZYTOSE
Jetzt stellt sich die Frage was Autophagie überhaupt ist.
Autophagie tritt bei vielen Pflanzen, vielzelligen Tieren und Hefearten auf. Der Prozess ist für ein Gleichgewicht zwischen der Produktion neuer und dem Abbau alter Zellbestandteile notwendig. Ein Mitochondrium einer Leberzelle hat beispielsweise eine Lebenszeit von zehn Tagen, bevor es durch Autophagozytose [2] abgebaut wird, und seine Bestandteile erneut zum Aufbau anderer Strukturen weiterverwendet werden. Somit ist die Autophagie eine im Laufe der Evolution entwickelte Strategie der Zellen, um Energie zu sparen.
Die Autophagozytose ist am Ab- und Umbau von Proteinen und Lipiden und an der Bereitstellung von Aminosäuren bei verringerter oder bei (teilweiser) Enthaltung von Nahrungszufuhr beteiligt [3], wie es beim Fasten der Fall ist. Durch Fasten wird Autophagie hervorgerufen [4]. Sie erfolgt in geringem Umfang in allen Zellen, wird aber beim Fasten verstärkt [5].
Mit zunehmendem Alter einer Zelle nimmt die Autophagozytose ab [6]. Eine verminderte Autophagozytose ist unter anderem an der Bildung von Tumoren beteiligt [7]. Weiterhin ist eine verminderte Autophagie an der Entstehung von ALS [8], Morbus Alzheimer, Chorea Huntington, SENDA (Statische Enzephalopathie der Kindheit mit Neurodegeneration im Erwachsenenalter) [9], multipler Sklerose, Morbus Crohn und systemischem Lupus erythematodes (SLE) beteiligt [10].
Autophagie ermöglicht zudem den Abbau von Bakterien, Viren und Fremdproteinen die in Zellen eingedrungen sind, wodurch diese einen zentralen Bestandteil eines stabilen Immunsystems bildet [11].
Autophagie ist also kein Hokuspokus sondern tatsächlich ein zentraler Bestandteil eines langfristig gesunden Körpers.
VORTEILE
Einige Vorteile wurden ja bereits angesprochen, aber wir wollen in diesem Abschnitt auf ein paar weitere Studien eingehen.
Von Valter D. Longo, einem angesehen Forscher im Bereich des Alterungsprozesses am Longevity Institute, Davis School of Gerontology and Department of Biological Sciences, University of Southern California und andere haben in der Studie „Fasting: Molecular Mechanisms and Clinical Applications“ gezeigt, dass bei Nagetieren intermittierendes oder periodisches Fasten vor Diabetes, Krebs, Herzerkrankungen und Neurodegeneration schützt, während es beim Menschen hilft, Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Asthma und rheumatoide Arthritis zu reduzieren. Somit hat das Fasten das Potenzial, das Altern zu verzögern und Krankheiten vorzubeugen, während die Nebenwirkungen chronischer Ernährungseingriffe minimiert werden [12]. Ähnliches zeigte auch die Studie „ Alternate-day fasting and chronic disease prevention: a review of human and animal trials“ von Krista A. Varady et al [13].
Es ist natürlich immer schwierig, die langfristigen Folgen des regelmäßigen Fastens abzuschätzen, weil dazu ganz einfach noch die langfristigen Studien fehlen, da erst seit 2016 die ersten Forschungsergebnisse ans Tageslicht gekommen sind.
Abhilfe schaffen — wie weiter oben angesprochen — aber eventuell Aufzeichnungen der Geschichte.
ZWEIFEL
Gegenteilige Meinungen bzw. Meinungen die nicht vollkommen überzeugt sind, gibt es aber auch, wie ein Zitat von Dr. Longo zeigt:
„Veröffentlichte Studien weisen darauf hin, dass dem Gehirn viele Auswirkungen einer kurzfristigen Nahrungsbeschränkung erspart bleiben, weil es ein metabolisch privilegierter Ort ist, der im Vergleich zu anderen Organen vor den akuten Auswirkungen eines Nährstoffmangels, einschließlich Autophagie, geschützt ist. Wir zeigen hier, dass dies nicht der Fall ist: Kurzfristige Nahrungsrestriktion induziert eine dramatische Hochregulation der Autophagie in kortikalen und Purkinje-Neuronen … Unsere Beobachtung, dass eine kurze Zeit der Nahrungsbeschränkung eine weit verbreitete Hochregulation der Autophagie in ZNS-Neuronen induzieren kann, könnte klinische Relevanz haben. Wie oben erwähnt, kann eine Unterbrechung der Autophagie eine neurodegenerative Erkrankung verursachen, und das Gegenteil kann auch zutreffen: Eine Hochregulierung der Autophagie kann eine neuroprotektive Wirkung haben.“
Osumi selbst ist folgender Meinung:
“As research into autophagy has expanded, it has become clear that it is not simply a response to starvation. It also contributes to a range of physiological functions, such as inhibiting cancer cells and aging, eliminating pathogens and cleaning the insides of cells. We have also begun to see a small explosion in research that demonstrates a new function with the knocking out genes that contribute to autophagy. However, there is still much we do not know about the mechanism of autophagy and this calls for serious study. I hope to go on to study autophagy at the molecular level, to tackle the mechanism head-on. That is my mission.“
Es zeigt sich also wiederholt, dass in der Wissenschaft nichts wirklich endgültig ist.
PRAKTISCHE ANWENDUNG
Vorab ist immer zu Erwähnen, dass Empfehlungen vor allem im Bereich der Ernährung nicht für jede Person zu empfehlen sind. Jeder Mensch ist ein eigenes Individuum und kann dem entsprechend individuell auf Medikamente und medizinische Techniken unterschiedlich reagieren. Es gilt also wie immer die Regel, dass man diverse Empfehlungen mit dem eigenen Hausarzt bespricht oder sich zumindest Schritt für Schritt an Empfehlungen herantastet um zu sehen, wie der eigene Körper darauf reagiert.
Beim Fasten speziell, ist es enorm wichtig, dass man sich kontrollieren kann. Wenn man 24 Stunden nichts isst und sich dannach mit Unmengen an Essen vollstopft und lauter Junk-Food isst, dann nützt jede gut gemeinte Empfehlung nichts mehr. Deshalb gilt wieder: Taste dich heran. Beobachte wie sehr du dich kontrollieren kannst. Vor allem wenn du in der Vergangenheit Essstörungen gehabt hast, gilt es, das mit einem Arzt gründlich zu besprechen oder zumindest sehr vorsichtig zu sein.
Weiters ist es wichtig, dass du es wirklich willst. Wenn du es einmal probieren willst, wird das wahrscheinlich nichts. Denn dann übermannt dich irgendwann der Hunger. Mach dir die Gründe klar, visualisiere die Vorteile und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass du den gewählten Zeitraum „überstehst“.
Du kannst dir während der Fastenzeit helfen, indem du Tees, Kaffee (nicht zu viel) und Wasser trinkst. Außerdem nicht an deinen Hunger denken zu müssen, ist eine tolle Empfehlung. Schlafe vielleicht einmal extra lang und dann hast du schon einmal ein paar Stunden mehr gefastet, ohne Unmengen an Willenskraft aufbringen zu müssen. Oder unternimm irgendwas, sodass du nicht an deinen Hunger denkst. Umgib dich zudem nicht mit Essen, sonst ist der Drang einfach zu groß.
Außerdem kann es gesünder sein, dass du nach deiner Fastenzeit, nicht gleich drei Gänge auf einmal konsumierst, sondern deinen Körper langsam an die Nahrungsaufnahme gewöhnst. Starte vielleicht mit ein paar Nüssen und einem Glas Zitronenwasser, warte für eine halbe Stunde und dann iss dein Gericht.
Die Frage der Fragen die jetzt noch offen bleibt ist, wie lange es braucht damit Autophagie im menschlichen Körper ausgelöst wird.
Das relativ bekannte Konzept 16 Stunden nichts zu essen und in einem Zeitraum von 8 Stunden alle Mahlzeiten des Tages einzunehmen ist, mag laut einigen Ergebnissen oftmals nicht ausreichen, um Autophagie überhaupt erst mit messbaren Auswirkungen zu induzieren. Es könne höchstens zu einer milden Autophagie kommen, wenn man wenige Kohlenhydrate und Ballaststoffe während des Tages aufgenommen hat. 22-23 Stunden zu fasten, also so zu essen wie Jack Dorsey und Wim Hof, kann wesentlich höhere Levels an Autophagie auslösen [14]. Jetzt verstehen wir auch langsam die Logik von Dorsey und Co.
Vielleicht ist ja mehr dran als man denkt.
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Quellen
Coverbild: Foto geschossen von Name. Heruntergeladen von Unsplash.
Y. C. Wong, E. L. Holzbaur: Optineurin is an autophagy receptor for damaged mitochondria in parkin-mediated mitophagy that is disrupted by an ALS-linked mutation. In: Proceedings of the National Academy of Sciences. Band 111, Nummer 42, Oktober 2014, ISSN 1091-6490, S. E4439–E4448, doi:10.1073/pnas.1405752111. PMID 25294927, PMC 4210283 (freier Volltext).
O. Shatz, P. Holland u. a.: Complex Relations Between Phospholipids, Autophagy, and Neutral Lipids. In: Trends in biochemical sciences. Band 41, Nummer 11, 11 2016, S. 907–923, doi:10.1016/j.tibs.2016.08.001, PMID 27595473 (Review).
Françoise Wilhelmi de Toledo, Andreas Michalsen, Stefan Drinda, Audrey Bergouignan, Franziska Grundler: Safety, health improvement and well-being during a 4 to 21-day fasting period in an observational study including 1422 subjects. In: PLOS ONE. Band 14, Nr. 1, 2. Januar 2019, ISSN 1932-6203, S. e0209353, doi:10.1371/journal.pone.0209353, PMID 30601864, PMC 6314618 (freier Volltext) – (plos.org [abgerufen am 30. Januar 2019]).
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Valter D. Longo, Mark P. Mattson: Fasting: Molecular Mechanisms and Clinical Applications. Publiziert Jänner 2016, DOI:https://doi.org/10.1016/j.cmet.2013.12.008, https://www.cell.com/cell-metabolism/fulltext/S1550-4131(13)00503-2?_returnURL=https%3A%2F%2Flinkinghub.elsevier.com%2Fretrieve%2Fpii%2FS1550413113005032%3Fshowall%3Dtrue
Krista A Varady, Marc K Hellerstein, Alternate-day fasting and chronic disease prevention: a review of human and animal trials. Publiziert Juli 2007, https://doi.org/10.1093/ajcn/86.1.7, https://academic.oup.com/ajcn/article/86/1/7/4633143
Siim Land, https://siimland.com/do-you-get-autophagy-fasting-for-16-hours/